Mittwoch, 13. Juli 2011

Die Österreichische Schule der Ökonomie

Die Österreichische Schule der Nationalökonomie hat Ihre Anfänge im späten 19. Jahrhundert und ist eine sich fundamental unterscheidende, jedoch weniger beachtete wirtschaftswissenschaftliche Schule im Vergleich zu den heute etablierten Mainstream-Wirtschaftswissenschaften neoklassischer und keynesianischer Prägung.
Die Österreichische Schule betont die Würde und Pflichten des Individuums. Die Würde unabhängiger Personen, die kraft ihrer jeweiligen Fähigkeiten durch den Drang das eigene Leben zu bestreiten, Güter für Andere produzieren. Die Pflicht, dabei das Eigentum, die Fähigkeiten und die Würde aller anderen zu respektieren und nie darauf aus zu sein, sich mit Zwang zu Lasten dieser zu bereichern. Die Pflicht, sein Leben durch einen ehrlichen Handel, welcher auf freiwilligen Entscheidungen beruht, zu bestreiten.
"Durch Kunstgriffe der Bank- und Währungspolitik kann man nur vorübergehende Scheinbesserung erzielen, die dann zu umso schwererer Katastrophe führen muss. Denn der Schaden, der durch Anwendung solcher Mittel dem Volkswohlstand zugefügt wird, ist umso größer,  je länger es gelungen ist, die Scheinblüte durch Schaffung zusätzlicher Kredite vorzutäuschen."
- Ludwig von Mises (1881-1973), Ökonom und Vertreter der Österreichischen Schule




Verzeichnis
     Einleitung
     Carl Menger
     Die Wertlehre
     Böhm-Bawerk und Wieser
     Sparen statt Konsum
     Ludwig von Mises
     Geld- und Konjunkturtheorie
     Friedrich A. von Hayek
     Vom Mainstream zum Nischenprogramm
     Die Freiburger Schule
     Die Essenz
     Ökonomie als Sozialwissenschaft
     Video: Vortrag zur Österreichischen Schule und ihrer Protagonisten
     von Ralf Flierl, Chefredakteur des Smart Investor


Nur wenige können heute mit der „[Österreichischen oder] Wiener Schule der Ökonomie“ noch etwas anfangen. Als tragische Ironie der Geschichte am allerwenigsten die Wiener selbst. Von den wenigen, die diese ökonomische Tradition kennen, betrachten sie die meisten aus bloß historischem Interesse. Als Wiener darf man ein wenig stolz sein auf jene einst führenden Ökonomen, doch die bleibende Bedeutung scheint sich in Fußnoten zu erschöpfen.
Warum und inwiefern sollte eine historische Gruppierung von Wissenschaftlern heute überhaupt noch relevant sein? Die gängige Auffassung von Wissenschaft lässt hierzu keinen Platz: Sie geht davon aus, dass es einen langfristig linearen wissenschaftlichen Fortschritt gibt, dass aus historisch zufälligen Ansätzen, Ideen, Irrtümern, Versuchen die Erkenntnis reift, am Ende das Richtige über das Falsche triumphiert, und auch der originellste Denker seinen Platz als Fußnote im magnum opus der Wissenschaftsgemeinde zugewiesen bekommt – und wenn nicht, so mag er wohl originell gewesen sein, aber letztlich doch bedeutungslos. Eine knappe historische Übersicht über jene Wiener Ökonomen soll dieses Wissenschaftsbild durch eine gewichtige Ausnahme in Frage stellen und schließlich die bleibende Bedeutung dieser Tradition aufzeigen.
Warum „Wiener Schule“? Oft ist auch von der „Österreichischen Schule“ die Rede, doch ist dies irreführend: Das alte Österreich besteht nicht mehr und das neue hat rein gar nichts mehr mit dem historischen Umfeld jener ökonomischen Tradition zu tun. Aus allen Ecken der Donaumonarchie kamen einst die größten Denker in Wien zusammen, dem damaligen Zentrum eines unglaublich vielfältigen und geschichtsträchtigen Kulturraumes, von dem nur noch die Fassaden geblieben sind. Kaum einer jener Ökonomen wäre heute „Österreicher“, noch wäre es im Österreich von heute überhaupt denkbar, dass eine solche Schule entstünde oder fortbestünde. Das Wien von heute würden die damals hier wirkenden zumindest wiedererkennen, und der Ort ihres Wirkens ist schließlich auch ihre wesentliche Gemeinsamkeit.

Carl Menger
Der Begründer der Wiener Schule, Carl Menger wurde 1840 im galizischen Neu-Sandez (heute in Polen) als Edler von Wolfesgrün geboren. In Wien gründete er nach journalistischer und literarischer Tätigkeit das Wiener Tagblatt und arbeitete schließlich für die Wiener Zeitung, jenes staatliche Organ, das bis heute überlebt hat. 1871 wurden seine Grundsätze der Volkswirthschaftslehre erstmals veröffentlicht und stellen das Gründungsdokument der Wiener Schule dar – eine veritable Revolution in der Ökonomie. Was war so revolutionär an Mengers Zugang, dass er schulbildend wurde – und was bleibt? Seine Grundsätze beginnen mit dem starken Satz: „Alle Dinge stehen unter dem Gesetze von Ursache und Wirkung.“ Dieser Satz steht paradigmatisch für Mengers kausalrealistischen Zugang. Als Journalist hatte er ökonomische Phänomene in der Realität beobachtet und ihm war aufgefallen, dass die bestehende Theorie nicht ausreichte, um diese zu erklären. Insbesondere die Preis- und Werttheorie war mangelhaft.
Die Bodenständigkeit des Journalisten und vermutlich seine aristotelische Prägung ließen Menger die Ökonomie wieder auf eine realistische Grundlage führen. Ebendiese Grundlage erkannte er in den menschlichen Handlungen. Objektive Marktphänomene wie die Ausbildung von Preisen waren kausal aus den subjektiven Wertungen der Marktakteure zu erklären. Dies scheint nahelegend, doch ist es nicht. Die deutsche Ökonomie war damals stark durch hegelianisches Denken geprägt, was letztlich im „Historismus“ zur Leugnung jeder ökonomischen Gesetzmäßigkeit führte.
Die klassische, angelsächsische Ökonomie hingegen mit ihrer empirisch- calvinistischen Prägung suchte die Grundlagen in Aggregaten und „objektiv“ messbaren Größen wie Arbeitszeit und Kosten. Heute wiederum dominiert der Relativismus und Konstruktivismus das Denken, was eigentlich gar keinen Platz für Erkenntnis mehr lässt. Mengers Wirken fiel nicht zufällig mit dem Aufkommen der Phänomenologie in der Philosophie zusammen; auch dieser von Edmund Husserl, einem Schüler von Franz Brentano, welcher manchen auch als Vorläufer Carl Mengers gilt, geprägte Zugang zeichnet sich durch eine Neuorientierung an der Realität aus – in einer Zeit, in der diese Realität als unbequemes Korrektiv eines idealistisch-utopischen
Zeitgeistes aus der Mode gekommen war.

Die Wertlehre
Zunächst nimmt sich Menger kaum als Revolutionär wahr, will er doch bloß die Lücken der klassischen Ökonomie nach Adam Smith und David Ricardo stopfen. Das Wertproblems harrte noch einer Lösung: Ließe es sich mittels einer einheitlichen Theorie erklären, warum etwas so Nützliches wie Wasser einen so geringen Tauschwert und etwas so Unnützes wie Diamanten einen so hohen hat? Eine einheitliche Wert- und Preistheorie würde wiederum einen theoretischen Ordnungsrahmen für ein besseres, d.h. realistischeres Verständnis der Geschichte anbieten und wäre damit auch dem damals in deutschen Landen dominante Historizismus dienlich gewesen. So widmete Menger sein Hauptwerk auch Wilhelm Roscher, dem ehrwürdigen Begründer der Historischen Schule. Ein tiefgehendes theoretisches Verständnis sollte es schließlich erlauben, besser zu verstehen, woher Wohlstand kommt und was zu höherem Wohlstand führt. Menger formulierte diese Problemstellung mit der Frage nach den „Ursachen der fortschreitenden Wohlfahrt des Menschen“.
Diese Formulierung erinnert an Adam Smiths berühmte Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, doch unterscheidet sich in zwei wichtigen Punkten davon, die kaum Zufall sind: Erstens nimmt Menger den einzelnen Menschen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. An die Stelle der merkantilistischen  Perspektive auf die „Volkswirtschaft“ oder „Nationalökonomie“, die so dominant
war, dass sie die Begriffe prägte, die auch die Vertreter der Wiener Schule aufgrund deren Geläufigkeit nutzten, tritt ein humaner Zugang, der sich am persönlichen Handeln und den persönlichen Zielen der Menschen orientiert. Deren Verschiedenheit geht nicht in Kollektivgrößen unter, sondern stellt den Ausgangspunkt des Verständnisses dar. Zweitens drückt „fortschreitende Wohlfahrt“ im Gegensatz zum „Wohlstand“ sehr deutlich die dynamische Perspektive aus.
Mengers Ansetzen bei menschlichen Zielen wird meist als „Subjektivismus“ bezeichnet, die eigentliche Bedeutung liegt dabei in der Beachtung des freien Willens der Menschen. Hätten wir keinen freien Willen, wären unsere Handlungen stets aus der Vergangenheit determiniert: Vergangenes würde Gegenwärtiges bestimmen. Dann könnten wir die Produktion rein aus dem erklären, was gegeben ist; mein produktiver Akt ließe sich dann über meine Kindheit, meine Umwelt, meinen Leib erklären. Damit gäbe es aber weder Verantwortung, noch Freiheit. Mittels einer sehr genauen Analyse, wie subjektive Entscheidungen zur Bewertung eines konkreten Gutes führen, konnte Carl Menger das Wertparadoxon lösen. Wert ist keine objektive, den Dingen eigene Sache, sondern das Ergebnis eines subjektiven Wertungsaktes. Wir werten durch unser Handeln allerdings niemals abstrakte Güterklassen im Ganzen („das Wasser“ oder „die Diamanten“), sondern stets konkrete Gütereinheiten. Das konkrete Glas Wasser, das wir wählen, ist immer das letzte, das wir zusätzlich wählen, oder das erste, das wir aufgeben.
Dieser Gedanke, dass Handlungen stets „an der Grenze“ stattfinden, nennt man Marginalismus – zusammen mit dem Subjektivismus löst dieser Zugang das Wertparadoxon auf. Dies ist von großer Bedeutung, denn so lassen sich zahlreiche Irrtümer der klassischen Ökonomie, auf der beispielsweise auch das Denken von Karl Marx beruht, auflösen. Das menschliche Subjekt als Ausgangspunkt der Ökonomie wiederum begründet eine personale, humane Wissenschaft, die ein realistisches Menschenbild zulassen würde. Beginnend mit Menger ist so die Ökonomie der Wiener Schule stets Sozialwissenschaft. Menger hat ein ungewöhnlich breites Verständnis von Ökonomie und ist weit entfernt vom heute gängigen, reduzierenden Ökonomismus. Eigentlich wollte er als Ergänzung ein Werk über die Grundsätze der Soziologie publizieren, doch kam er nicht mehr dazu. Mengers Bibliothek zählte so mehr als 1.000 ethnologische Titel. Sein Verständnis von gesellschaftlichen Institutionen ist ebenfalls wegweisend: Er prägt die Theorie der „spontanen Ordnung“, und vermag es so, das Entstehen der wichtigsten Institutionen zu erklären.
Mengers ökonomischer Zugang ist auch und gerade für heutige Verhältnisse noch revolutionär: Bei ihm spielen Wissen, Ungewissheit und Zeit zentrale Rollen. Seine dynamische Perspektive geht von einem Marktprozess aus, nicht von stationären Zuständen. Auch für die Unternehmertheorie, jenen von der klassischen Ökonomie absurderweise meist stiefmütterlich behandelten Themenbereich, lieferte er wesentliche Anregungen.
In seiner Erklärung des Unternehmers skizzierte Menger zwei wesentliche Aspekte, die schließlich von seinen Nachfolgern weiterentwickelt werden sollten. Kurz können wir diese zwei Aspekte der Unternehmerfunktion als „Wissen“ und „Willen“ zusammenfassen. Der Unternehmer benötigt, trägt und schafft ein ganz spezifisches Wissen, und ihm obliegt die Entscheidung über den Produktionsprozess, die aufgrund ihrer Irreversibilität und Ungewissheit einen besonderen Willensakt persönlicher Verantwortung erfordert. Leider ist sein schriftliches Werk nicht besonders umfangreich geraten, doch der Grund dafür ist ein günstiger: Menger widmete sich vorwiegend der Begründung einer Schule, als hochbegabter und -geschätzter Lehrer brachte er unzählige Schüler hervor. So wirkte er an 17 Habilitationen mit.

Böhm-Bawerk und Wieser
Seine unmittelbaren Nachfolger waren die Studienkollegen und Freunde Eugen von Böhm-Bawerk und Friedrich von Wieser. Eugen Böhm Ritter von Bawerk wurde 1851 im mährischen Brünn (heute in Tschechien) geboren. Sein didaktisches Geschick stand dem seines Lehrers in nichts nach, seine Werke sind aufgrund der geistreichen Beispiele und der klaren Sprache noch heute besonders lesbar, was man von anderen ökonomischen Werken der Zeit kaum behaupten kann. Besonderes Verdienst erwarb er sich um die Weiterentwicklung der Kapital- und Zinstheorie, der jedoch Carl Menger zu Recht sehr kritisch gegenüberstand, da Böhm-Bawerk zu einer gewissen abstrakten Künstlichkeit tendiert, die teilweise der heutigen Neoklassik ähnelt.
In seiner berühmten Schrift von 1896, Zum Abschluß des Marxschen Systems, legte Böhm- Bawerk eine eloquente Widerlegung des Marxismus vor, insbesondere von dessen absurder, wenngleich auf der klassischen Ökonomie beruhender Arbeitswerttheorie. Friedrich Freiherr von Wieser, auch 1851 geboren, galt ebenfalls als hervorragender Lehrer, formulierte Mengers Wertlehre aus und prägte
wesentliche Begriffe. So führte er den Begriff „Grenznutzen“ in die Ökonomie ein und entwickelte er das Konzept der Opportunitätskosten, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Opportunitätskosten sind als entgangener Nutzen in der Regel „unsichtbar“ und liegen zahlreichen, bis heute dominanten Täuschungen der Politik zu Grunde, z.B. überall dort, wo „Umwegrentabilitäten“ von „Ökonomen“ im Staatsdienst berechnet werden – nach Frédéric Bastiat als „Irrtum vom zerbrochenen Fenster“ bekannt.

Sparen statt Konsum
Böhm-Bawerk prägte eine Essenz der Wiener Schule in beispielhafter Klarheit: Die Bedeutung des Kapitals. Darunter ist keine ideologische Voreingenommenheit gegenüber einer angeblichen „Klasse“ zu verstehen, sondern eine tiefgehende Betrachtung des Produktionsprozesses, die diesen gewissermaßen vom Kopf auf die Füße stellt. Bis heute ist es eine beliebte Vorstellung, dass sich Wohlstand durch Konsum schaffen ließe. Eine solche Welt käme all jenen, die Verantwortung und Anstrengung scheuen, sowie den Machthabern sehr entgegen, denn letztere könnten dann durch bloße „Umverteilung“ per Zwang „Nachfrage“ schaffen. Doch das konsumieren, das Einkaufen, das Besetzen eines „Arbeitsplatzes“ sind keine Selbstzwecke. Es handelt sich allenfalls um Mittel, um unseren Zielen näher zu kommen – und dieses Näherkommen bezeichnet höherer Wohlstand.
Wie Böhm-Bawerk zeigte, gibt es hierbei allerdings keine magischen Abkürzungen, unseren Zielen können wir nur auf Umwegen näher kommen. Diese Umwege sind aber nur scheinbare Umwege, wir erbringen das Scheinopfer eines vorübergehend niedrigeren Konsums und bauen Kapital auf, das uns letztlich den „Konsum“, d.h. das Erreichen höherer Ziele bei geringeren Opfern ermöglicht. Hier, wie an vielen anderen Stellen, ist es Aufgabe einer realistischen Ökonomie, die Weisheit des Hausverstandes gegen den ausgefeilten Unsinn von Ideologen argumentativ zu verteidigen.
Höherer Wohlstand ist nur durch Arbeit, investives Sparen und Kapitalbildung erreichbar, nicht durch Konsum oder Umverteilung. Durch ihre subjektivistische Perspektive ermöglicht die Wiener Schule dabei stets eine weitere, realistischere Definition der Begriffe. „Kapital“ und „Produktion“ müssen nicht eng materialistisch verstanden werden, „Wohlstand“ nicht bloß monetär oder utilitaristisch – auch wenn dies wohl die meisten Ökonomen der Wiener Schule als Kinder ihrer Zeit so taten.

Ludwig von Mises
Der bedeutendste Schüler Böhm-Bawerks sollte Ludwig von Mises werden. Ludwig Heinrich Edler von Mises wurde 1881 im galizischen Lemberg (heute in der Ukraine) geboren. Historische Bedeutung erlangte er in der sogenannten Kalkulationsdebatte, in der er die Unmöglichkeit einer Wirtschaftsrechnung im Sozialismus zeigte. Dafür schlug der Sozialist Oscar Lange augenzwinkernd vor, ihm eine Statue in jedem Ministerium für Zentralplanung zu errichten.
Mises zeigte auf, dass eine Wirtschaft, in der die Akteure nicht rechnen können, zu massiven Fehlallokationen führen muss. Darunter versteht er allerdings nicht bloße Abweichungen von irgendeinem fiktiven Gleichgewichtspunkt höchster Effizienz, sondern die Unmöglichkeit, die Produktion an den Präferenzen der Menschen auszurichten. Denn diese Präferenzen können nur in den freien Handlungen verantwortlicher Akteure sichtbar werden und sich durch erfolgte Wahl- und Tauschhandlungen in Preisen manifestieren. Die Bedeutung von Preisen liegt dabei keinesfalls in der bloßen Ausweisung von Zahlenbeträgen. Ein frei gebildeter Preis ist die Dokumentation von Entscheidungen seitens der für knappe Ressourcen verantwortlichen Menschen.
Über das marktgängigste Gut, Geld, können diese vergangenen Entscheidungen in einheitlicher Form dokumentiert und damit zur Rechnungsgrundlage werden. Die Geschichte gab Mises recht, doch seinerzeit war dies alles andere als eindeutig: Versprach der Sozialismus doch einst nicht nur eine gerechtere, sondern vor allem auch eine effizientere Form des Wirtschaftens.
Ludwig von Mises stand hoch oben auf der Liste der Feinde des national-sozialistischen Regimes. Noch am Vorabend des Anschlusses wurde seine Bibliothek ausgeräumt und beschlagnahmt. Offenbar planten die National-Sozialisten, Margit, zum damaligen Zeitpunkt die Verlobte von Mises, als Geisel festzuhalten, um den bereits nach Genf ausgewanderten Mises zur Rückkehr zu bewegen – und so einen schwergewichtigen intellektuellen Gegner endgültig auszuschalten. Zum Glück gelang Margit von Mises rechtzeitig die Flucht. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass Mises‘ enteignete Bücher erst vor kurzem in Moskau auftauchten; die Sowjetunion hatte sie unter ihre Kontrolle gebracht und so blieben sie derart lange unter Verschluss.

Geld- und Konjunkturtheorie
Bleibenden Ruhm errang Ludwig von Mises als Geld- und Konjunkturtheoretiker. Schon Carl Menger hatte an die alte, bereits fast vergessene Geldtheorie angeknüpft, die Geld nicht als Erfindung und Verordnung der Machthaber interpretierte, sondern als soziales Phänomen. Das tiefere Verständnis der Entstehung und Funktion des Geldes erlaubt so eine scharfe Kritik der Manipulation des Geldes, eine Geißel, die die Menschheit seit ihrer Frühgeschichte begleitet. Nur wenige, wie etwa die mittelalterlichen Gelehrten Jean Buridan de Béthune und Nicolas d’Oresme, haben die Folgen einer Bereicherung der Machthaber mittels Geldentwertung erkannt.
Denker der Wiener Schule wie Carl Menger, Ludwig von Mises, Friedrich A. von Hayek, Murray N. Rothbard und heute J. Guido Hülsmann und Jesús Huerta de Soto, haben diese Tradition fortgeführt. Eng verbunden mit der Geldtheorie ist die Konjunkturzyklustheorie, die ebenfalls Ludwig von Mises ausformuliert hat. Wesentliche Verbesserungen dieser Theorie leisteten Murray N. Rothbard und J. Guido Hülsmann. Dieses Verständnis der Konjunkturzyklen ist aktuell von besonderer Bedeutung. Die wenigsten Ökonomen verstehen heute die Ursachen und Dynamiken moderner Zyklen.
Wie schon bei der letzten Weltwirtschaftskrise erweisen sich Ökonomen der Wiener Schule jedoch wiederum geradezu als Propheten – doch sie blicken in keine wundersame Glaskugel, sondern zeichnen sich durch ein besonderes tiefes Verständnis dieses Phänomens aus, ein Verständnis, das nicht besonders populär ist, da es die Ansicht ins Reich der Mythen verweist, dass Konjunkturzyklen unvermeidbar wären. Tatsächlich sind sie die Folge von Manipulationen – kein Wunder, dass die Konjunkturzyklustheorie an heutigen, staatlichen Universitäten kaum noch unterrichtet wird.
Besonderes Verdienst hat sich Ludwig von Mises noch im Bereich der Unternehmertheorie erworben. Während der Unternehmer sonst in der Ökonomie praktisch nicht vorkommt, da er nicht in die künstlichen Gleichgewichtsmodelle passt, spielt er in der Perspektive der Wiener Schule eine tragende Rolle. Im weiteren Sinne sind wir alle Unternehmer, denn wir handeln auf eine ungewisse Zukunft hin: all unser Handeln hat also eine spekulative Seite. Manche Menschen schultern jedoch wesentlich mehr Ungewissheit als andere. Dies sind die Unternehmer im engeren Sinne, die auf eigene Verantwortung und eigene Rechnung
knappe Ressourcen einsetzen und damit auf’s Spiel setzen. Wenn sie die Zukunft besser erahnen als andere, dann werden sie durch Profite belohnt, wenn sie sich verschätzen, durch Verluste bestraft.
Ohne den Mut, diese ständigen Wagnisse einzugehen, gäbe es keinen wirtschaftlichen Fortschritt, kein immer besseres Angleichen der Produktion auf der Grundlage knapper Mittel an die Ziele der Menschen. Doch Vorsicht: Genau jenes tiefgehende ökonomische Verständnis der Funktion des Unternehmers erlaubt es nicht, den Begriff leichtfertig jedermann umzuhängen, der Betriebe führt oder Maschinen einsetzt. Die Funktion, die den wahren Unternehmer auszeichnet, liegt darin, auf eigene Verantwortung das Vermögen der Menschen zu mehren, höhere Ziele besser und ressourcenschonender zu erreichen, nicht bloß Mittel als Selbstzweck anzuhäufen.

Friedrich A. von Hayek
Friedrich August von Hayek (1899-1992) war der bedeutendste Wiener Schüler von Ludwig von Mises. 1974 sollte er spät den Nobelpreis für Ökonomie erhalten, allerdings darf man diesen Preis nicht überwerten. Dahinter stehen in der Regel politische Motive. Als Hayek der Preis verliehen wurde, offenbar zum politischen Ausgleich des gleichzeitigen Preisträgers Gunnar Myrdal (ein schwedischer Sozialist), hatte er sich längst von der Ökonomie abgewandt. Als junger Ökonom bewies er sein Talent durch die weitere Ausarbeitung der Konjunkturzyklustheorie von Ludwig von Mises.
Mit Mises war er Begründer des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung, das später zum „Wirtschaftsforschungsinstitut“ wurde. Die Begründer und deren Ansätze sind heute freilich längt vergessen, das heutige WIFO tappt konjunkturtheoretisch vollkommen im Dunkeln. Hayek verließ 1931 das immer wissenschaftsfeindlichere Wien für einen Lehrstuhl an der London School of Economics, wo er gemeinsam mit Lionel Robbins wirkte, der einst der Wiener Schule sehr nahe stand – ihr aber später, wie fast alle anderen, den Rücken kehrte.
Hayeks Karriere als Ökonom nahm ein Ende nach seiner verzweifelten Veröffentlichung von „Road to Serfdom“ (Weg zur Knechtschaft), einer Warnung vor der Entwicklung zum Totalitarismus, vor dem auch Länder wie die USA oder Großbritannien nicht gefeit wären. Nach diesem populären, politischen Werk, das
große Breitenwirkung erlangte, da es in gekürzter Fassung im Reader’s Digest erschien, war, seiner eigenen Einschätzung nach, sein Ruf als Ökonom ruiniert. In der Tat ist es natürlich problematisch, wenn Ökonomen politische Manifeste veröffentlichen – Mises hatte nach dem flammenden Plädoyer „Liberalismus“
einen ähnlichen Makel. Nun wird man Wissenschaftlern nicht vorwerfen können, selbst explizite Meinungen zum Tagesgeschehen zu haben, doch färben politische Irrtümer natürlich auf die Wissenschaft selbst ab, insbesondere wenn eine Schule auf so wenige Exponenten dezimiert ist.
Der späte Hayek widmete sich so zunehmend anderen Disziplinen, insbesondere der Rechtsphilosophie, der Ideengeschichte, der Psychologie und, wie bereits erwähnt, der politischen Philosophie. Er wurde zum Ideengeber einer Bewegung liberaler Intellektueller, die versuchte, durch die Popularisierung von „Ideen“ dem etatistischen Zeitgeist entgegenzuwirken. Diese Strategie muss allerdings als gescheitert gelten. Die verwässerten „liberalen“ Ideen waren entweder als Feigenblätter für Machtausweitung, Zentralisierung und Klüngelkapitalismus (Stichwort „Neoliberalismus“) „erfolgreich“ oder sie versiegten vollends in einer intellektuellen Oberflächlichkeit, für die sowohl Prinzipien als auch wissenschaftlicher Anspruch zur Nebensache wurden.

Vom Mainstream zum Nischenprogramm
Ludwig von Mises und Friedrich A. von Hayek stehen genau am Übergang der Wiener Schule von einer Gruppe akademisch verankerter, international respektierter Ökonomen hin zu einem verfolgten Nischenprogramm. Wenn man sich die Entwicklung der Wiener Schule in Wien ansieht, kann man dieser Trendwende allerdings auch Positives abgewinnen. Praktisch alle ursprünglichen Wiener Ökonomen, d.h. die Schüler von Carl Menger und deren Schüler, waren im Staatsdienst untergekommen und sollten eine führende Rolle bei der Einführung der Kriegswirtschaft spielen. Friedrich von Wieser etwa leitete das Ministerium für „Öffentliche Arbeiten“. Ein anderer Schüler Mengers, Viktor Mataja (1857-1934),
wurde erster Sozialminister.
Der heute bekannteste „Wiener Ökonom“, Joseph Alois Schumpeter (1883-1950), ein Schüler Böhm-Bawerks, war gar Teil der Verstaatlichungskommission. Wohl ist er deshalb in Erinnerung geblieben, weil er sein Fähnchen am ehesten nach dem Wind ausrichtete. Hayeks Schüler an der London School of Economics wandten sich fast ausnahmslos dem Keynesianismus zu. Selbiges gilt für die in Wien verbliebene Linie, ausgehend von Hans Mayer (1879-1955), der sich mit den National-Sozialisten arrangierte – sie endete mit Wilhelm Weber (1916–2005), ebenfalls Keynesianer. Jene „Wiener“ Ökonomen, die in den
USA Karriere machten, entfremdeten sich ebenfalls nach und nach dem Mengerschen Programm. Gottfried von Haberler (1900-1995), bekannt für seine Beiträge zur Handelstheorie, schaffte es nach Harvard. Fritz Machlup (1902-1983), der wesentliche Beiträge zur Ökonomie des Wissens leistete, kam nach Princeton, ebenso Oskar Morgenstern (1902-1977), der einer der Begründer der Spieltheorie ist und 1963 mit Paul F. Lazarsfeld das Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien gründete, das freilich schon bei seiner Gründung kaum noch etwas mit dem Mengerschen Forschungsprogramm zu tun hatte.

Die Freiburger Schule
Stark beeinflusste die Wiener Schule schließlich die Freiburger Schule Walter Euckens (1891- 1950), der seinerseits von der Phänomenologie Husserls geprägt ist. Diese Schule sollte dereinst hinter Ludwig Erhards „Sozialer Marktwirtschaft“ stehen. Auch hier allerdings erweist sich die politische Macht als jener Filter, der die falschen Schlüsse der Freiburger Schule übertreibt und ihre richtigeren Ansätze ausblendet. Wie viel Machtausdehnung ließ sich nicht im Namen der „Ordnungspolitik“ legitimieren, des staatlich zu „veranstaltenden“ Wettbewerbs. Von der Wiener Schule geprägte Kritiker abseits der Macht und des akademischen Establishments wie Volkmar Muthesius und Hans Hellwig erhielten kaum Gehör. In ihrem Kern nahm die Freiburger Schule jedoch viel Positives auf und entwickelte es weiter.
Als Weggefährte der Freiburger Schule, selbst stark von Ludwig von Mises geprägt, ist etwa Wilhelm Röpke (1899-1966) zu nennen: ein prophetischer Analytiker des Zeitgeistes. Erwähnt werden sollte auch der interessante Umstand, dass Kardinal Joseph Höffner (1906-1987) und Wilhelm Weber (1925-1983; nicht zu verwechseln mit dem oben genannten Wilhelm Weber) durch die „Freiburger Schule“ gingen und zu jenen katholischen Denkern zählen, die die realistische Ökonomie der Scholastik wiederentdeckten. Mises prägte auch Denker wie den österreichischen Historiker Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn (1909–1999) und den deutschen Politikwissenschaftler Eric Voegelin (1901-1985), deren fruchtbare Arbeiten ebenfalls quer zum Zeitgeist stehen.
Auch in Österreich floss die Wiener Schule nochmals – ähnlich wie in Deutschland – über Umwege und verwässert in die Politik ein. Reinhard Kamitz (1907-1993), dem analog zu Erhard das „österreichische Wirtschaftswunder“ zugeschrieben wird, war von Friedrich A. von Hayek beeinflusst. Doch auch hier überlebte die Ökonomie nicht den Todeskuss der Macht.

Die Essenz
Ist also die Wiener Schule tatsächlich in anderen Schulen aufgegangen? Ist sie nicht mehr als eine historische Episode? Dazu ist zunächst die Essenz der Wiener Schule zu bestimmen. Wenn man die Denker dieser Tradition vergleicht, findet man einen lebhaften Diskurs, unterschiedlichste Zugänge und Schlüsse, durchaus auch viel Widerspruch. So besehen, ist die Wiener Schule keine geschlossene Lehre.
Vielmehr handelt es sich um ein Forschungsprogramm, das seine besondere Fruchtbarkeit gerade dort zeigt, wo es sich an vorherrschenden Zugängen reibt. Carl Mengers besondere Leistung wird dort deutlich, wo er sich vom Hegelianismus der jüngeren historischen Schule abhebt, wo er – Wissenschaftler durch und durch – sich vorbehaltlos realen Phänomenen nähert, um diese zu verstehen, nicht bloß zu beschreiben. Zugleich ist aber auch säkularer Forscher in einem katholischen Umfeld, hat liberale Sympathien, passt nicht in die Schubladen.
Menger war ein unbequemer Zeitgenosse, manchmal spricht aus seinen Schriften sogar Wut; wie die meisten anderen Vertreter der Wiener Schule ist er ein Aristokrat, der so unangepasst ist, dass er den Adelstitel nicht führt, gar als „Ghostwriter“ ein Pamphlet gegen den Adel verfasst, der ihm viel zu bequem und träge geworden ist. Ganz ähnlich Ludwig von Mises: Einer der vielen Widersprüche dieser Person liegt darin, dass Mises in seinem Auftreten durch und durch aristokratisch ist, und doch ein antiaristokratischer Liberaler.
Überall dort, wo Vertreter der Wiener Schule Teil des Nomenklatur wurden, verschwand augenblicklich das Außergewöhnliche ihres Zugangs, werden sie alsbald ununterscheidbar, sind sie bloß noch namhafte Mainstream-Ökonomen, aber nicht mehr. Überall dort, wo sie aufgrund ihrer Persönlichkeit, der Wirren der Geschichte oder ihrer Ideologie außerhalb des Establishments stehen, sind sie wissenschaftliche Pioniere, von denen die Geistesgeschichte Ihresgleichen sucht. Angesichts der unglaublichen Breite ihres Denkens, der unterschiedlichen Aspekte und Zugänge, der Widersprüche findet sich die wesentliche Essenz der Wiener Schule genau darin: Es handelt sich um ein Forschungsprogramm, das nicht im Dienste der Macht steht – und wo es in diesen Dienst genommen wird, entschwindet es sogleich.
Während die Kathedersozialisten der historischen Schule Machtlegitimierung betreiben, ist Carl Menger keinesfalls anti-historisch, sondern österreichisch geprägter Realist statt preußischer Idealist, Wissenschaftler statt Politiker, Theoretiker der Gesellschaft statt „Pragmatiker“ der Macht. So kontrastiert Menger  organische“ und „pragmatische“ Institutionen, um die subtile Blasphemie gegen Machtinteressen zu begehen, dass er die wichtigsten menschlichen Institutionen als „organisch“ versteht, d.h. weder auf Idee noch Wille eines Führers oder eines mystischen Volksgeistes zurückführt, sondern allein auf das reale Phänomen menschlichen Handelns.
Böhm-Bawerk wiederum stand wie später Mises im Widerstreit zum erstarkenden Sozialismus. Wegweisend ist sein Aufsatz Macht oder ökonomisches Gesetz?, in dem er getreu dem Forschungsprogramm der Wiener Schule die Erkenntnis der Realität als unbequemes Korrektiv der Macht illustriert. So gelangt man zum paradoxen Schluss: Wäre in Österreich der Liberalismus nicht untergegangen, wäre die Wiener Schule tatsächlich nicht mehr als eine Episode der Wissenschaftsgeschichte. Solange Liberale nicht an der Macht sind, erscheint ihre Ideologie machtkritisch. Die liberalen Exponenten der Wiener Schule wie Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek standen daher im Widerstreit zum Staate und blieben zum Glück entfernt von jeder Machtposition.
In den USA fanden sie nach der Vertreibung aus Österreich Aufnahme durch jene Minderheit, die damals dem sozialdemokratischen Faschismus Roosevelts trotzte und daher liberale Denker stützte. Aus diesem Grunde erfolgte leider in den USA auch eine Überlagerung der Wiener Schule mit US-amerikanisch geprägter liberaler Ideologie („libertarianism“), sodass diese heute kaum noch auseinandergehalten werden. Dies ist verheerend für die Wahrnehmung in Europa und die Fortführung dieses Forschungsprogramm, denn Ideologie und Wissenschaft vertragen sich nicht. Gleichwohl kann Ideologie in einem bestimmten historischen Kontext der Erkenntnis eine Schutzschicht bieten, indem sie ein Forschungsprogramm vor Opportunisten und Machthabern tarnt und bewahrt.
Doch die bleibende Bedeutung der Wiener Schule liegt genau dort, wo sie nicht bloßer Deckmantel für Ideologie ist, ob neoliberal, altliberal oder interventionistisch, sondern Wissenschaft im Sinne des tieferen Verständnisses realer Phänomene. Dass der Wissenschaftler in diesem Sinne oft ausruft „Der Kaiser ist nackt!“ darf dabei nicht als ideologische Feindschaft gegenüber dem Kaiser (heute dem „Staat“) ausgelegt werden. Es handelt sich dabei um die nötige Folge jeder kritischen, unabhängigen Mehrung des Wissens, dass etablierte Glaubenssätze und – meist noch wichtiger, da noch mehr Mut erfordernd – gleichfalls moderne Irrtümer verworfen werden, wenn sie sich als falsch erweisen.

Ökonomie als Sozialwissenschaft
Die Wiener Schule war niemals bloße Ökonomie, sondern immer ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm im weitesten Sinne. So überrascht es nicht, dass Vertreter dieser Tradition wesentliche Beiträge in den entferntesten Disziplinen leisteten. Besondere Erwähnung verdient die Auseinandersetzung mit dem Recht, da hier im Laufe des letzten Jahrhunderts die größte Korrumpierung und der größte Erkenntnisrückschritt stattfanden. So treten Nachfolger der Wiener Schule heute als einsame Warner vor dem erdrückenden Rechtspositivismus auf.
Friedrich August von Hayek entdeckte in seinen rechtsphilosophischen Studien die Vorzüge des Gewohnheitsrechtes wieder, das mit seiner traditionalen Ausrichtung im Zeitalter der Aufklärung so sehr unter Druck geraten war. Murray N. Rothbard, Mises’ bedeutendster Schüler in den USA, wiederum fand zurück zur Naturrechtstradition. Rothbard war zwar auch ein ausgezeichneter Historiker, der sich große Verdienste beim Ausgraben vergessener Denker erworben hat, seine politischen Ambitionen und sein Versuch, liberale Ideologie rationalistisch zu untermauern, führten allerdings auch zu einer eher ahistorischen Auffassung von „Naturrecht“, die dessen Wirkung auf die engen Kreise der „libertarians“ beschränkte. Genau jene Aspekte der Wiener Schule, die heute nicht Teil des Mainstreams sind, gehören zu ihren größten Errungenschaften und sind damit von besonderem, bleibendem Wert.
Dazu gehört jener epistemologische Zugang, der jeder Objektivierung und „Messbarkeit“ widersteht, weil er reale Menschen als freie und verantwortungsfähige Akteure in den Mittelpunkt rückt. Oder die  Unternehmertheorie, insbesondere in ihrer Ausformulierung durch Ludwig von Mises, die ebenfalls persönliche Verantwortung groß schreibt und daher Politikern und Managern (im Gegensatz zu Schumpeters ungenügender, aber – o Wunder! – viel populärerer Fassung) den schönen Titel „Unternehmer“ vorenthält. Von besonderer Aktualität ist die Konjunkturzyklustheorie, die nicht nur die derzeitige, sondern auch historische Wirtschaftskrisen korrekt vorhergesehen hat, allerdings aus verständlichen Gründen unbeliebt ist.
Dieses Forschungsprogramm ist so alt wie die Menschheit und steht doch erst in seinen Kinderschuhen. Denn Macht ist eine faustische Verlockung für Intellektuelle; die Produktion von Unsinn ist ein hervorragendes Beschäftigungsprogramm, die Legitimierung von Macht schließlich schafft dafür auch die materielle Grundlage.
Die „Wiener Schule“ ist somit eine Episode in jenem ewigen Widerstreit zwischen Illusion und Realität, zwischen Täuschung und Erkenntnis, zwischen Bequemlichkeit und Verantwortung. Sollte dereinst dieses Forschungsprogramm wieder seine wahre Bedeutung erfahren, wird auch der historische Bezug zu Wien nicht mehr von Bedeutung sein, genauso wenig wie die Betrachtung einer „Schule“; bis dahin erinnert uns die Bezeichnung daran, in welchen Büchern wir nachschlagen können, um den Faden der Erkenntnis wieder aufzunehmen.

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Von Rahim Taghizadegan aus "Die Wiener Schule der Ökonomie. Eine Analyse des Instituts für Wertewirtschaft."
http://www.wertewirtschaft.org/analysen/WienerSchule.pdf



Ralf Flierl, Chefredakteur des Smart Investor, referiert im folgenden Video über die Österreichische Schule und ihre Protagonisten.


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